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Erschienen in: „Hannoversche Allgemeine Zeitung“, 27. Januar 2014

Auf dem Tresen steht eine Teekanne. Weißes Porzellan. Stilecht, wie es sich für eine Friesin wie Renate Hermsdorf gehört. Hermsdorf lächelt und schüttet eine durchsichtige Flüssigkeit in ein kleines Glas mit einem geriffelten, grünen Fuß. Das wirkt nur auf den ersten Blick unpassend. Denn der Tee im „Üme Ecke“ ist ein Obstler.

„Ich habe sie ja alle erlebt.“

 

Renate Hermsdorf steht hinter ihrem Tresen. Dunkles Holz, am Zapfhahn ein Aufkleber gegen hohe Steuern, einer für den Knabenchor. Hinter ihr Hängeschränke aus dunklem Holz mit vielen bauchige Biergläsern. Hermsdorf steht seit 33 Jahren hier, Tag für Tag. Wenn die Wirtin über den Zapfhahn blickt, dann schaut sie auf die dunkle Holzvertäfelung, die ihre Vorgängerin hier 1958 angebracht hat. An der Wand hängen Dutzende Fotos von Künstlern. Fast alle sind der Wirtin gewidmet, wie beim Bild von Freddy Quinn. „Ich habe sie ja alle erlebt“, sagt Hermsdorf. Links von ihr die kleine Küche, rechts zwei Tische für zwei Dutzend Gäste – wenn sie eng zusammenrücken. „Das ist mein Wohnzimmer“, sagt Hermsdorf.

In einer Woche wird es keinen Tee mehr geben im „Üme Ecke“. Auch kein Bier, keinen Wein, keinen Korn und keine Frikadellen. Dann treffen nicht mehr Minister auf Arbeiter, Bänker der Nord/LB auf Künstler aus dem Aegi. Renate Hermsdorf schließt ihre Kneipe zum Monatsende. Jetzt, in den letzten Tagen, da kommen noch einmal ganz viele Gäste ins „Üme Ecke“. Einer davon ist „Mecki“ Brenke. „Hier hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert“, so beschreibt Brenke das Erfolgsrezept des „Üme Ecke“.

Hier etwas ändern? „Das wäre Wahnsinn!“

 

Man laufe hier nicht jeder Mode nach. Und das würden die Leute auch schätzen, sagt Brenke. Hermsdorf hat nie daran gedacht, im Gastraum etwas zu ändern. „Warum auch?“ Noch ist nicht entschieden, wer die Räume übernimmt. Aber ein Interessent plant wohl, die mit Holz abgehängte Decke herauszureißen. Für Brenke ist das schlicht: „Wahnsinn!“ Hermsdorf fände das schon schade. Ob sie die Nachfolgekneipe besuchen wird? Ein bisschen Zeit wird wohl vergehen müssen, sagt sie.

Überhaupt: die Zeit. Im „Üme Ecke“ kam schon 1958 das erste Gilde aus dem Zapfhahn. Hermsdorf hat die Kneipe vor 23 Jahren übernommen, davor hatte sie schon zehn Jahre hier mitgearbeitet. Freie Tage gab es seitdem selten. „Ich bin ja jeden Abend hier“, sagt sie. Und auch schon morgens. Dann kommen manchmal Freunde, Bekannte oder Nachbarn zum Frühstück in den Gastraum. So richtig daran denken, dass dies bald zu Ende sein wird, mag Hermsdorf nicht. Auch wenn sie dann viel machen kann. Einen Schrebergarten hat sie, um den will sie sich in diesem Jahr ein wenig mehr kümmern als früher.

Vielleicht ein Konzert vom Knabenchor Hannover besuchen, den sie so sehr mag. Die Älteren, die nach Stimmbruch und Volljährigkeit dem Chor die Treue halten, sind gar nicht so selten da; und sie gehen nie, ohne noch einmal ein „Am Brunnen vor dem Tore“ und „Ännchen von Tharau“ anzustimmen. Vielleicht wird Hermsdorf auch mal wieder in die Oper gehen oder etwas anderes am Abend unternehmen, abseits des Tresens.

Auch der Kanzler mag die „bierbegleitenden Speisen“

 

Früher, da kamen auch viele Künstler nach ihrem Auftritt im Theater am Aegi noch um die Ecke, gingen die wenigen Meter in die Maschstraße hinein, die von Theater und Nord/LB eingerahmt ist. Heute ist das anders, wie Hermsdorf sagt, viele der Tourbusse fahren gleich nach dem Auftritt in Richtung eines der großen Hotels. Doch ohne Prominente muss sie nicht auskommen. Hinter dem Tresen, unter ihrer kleinen Musikanlage, da hängen, von rechts nach links: Gerhard Schröder, Christian Wulff und David McAllister. Die Ministerpräsidenten waren immer mal wieder zu Gast, die Staatskanzlei ist nahe. Und sie ließen sich auch die „bierbegleitenden Speisen“ schmecken, die es hier gibt. Frikadellen, Würstchen, Kartoffelsalat. Etwas anderes darf sie in der kleinen Küche nicht zubereiten. Stephan Weil hat hier wohl noch nicht oft genug gegessen, er fehlt in der Reihe. „Da muss er schon noch ein paar Mal kommen“, sagt Hermsdorf, und stockt dann, weil sie merkt, dass das nicht mehr klappen wird.

Hermsdorf hat vieles gehört, wenn die Genossen Schröder und Steinmeier hier donnerstags zusammensaßen. „Ich habe so viele Geschichten zu erzählen“, sagt sie. Etwa von dem Abend, an dem am Tresen über Wilhelm Busch gesprochen wurde. Jeder Gast konnte etwas zitieren, aber so richtig vollständig wurden die Stücke nicht wiedergegeben. Am nächsten Morgen kaufte Hermsdorf ein Buch mit Busch-Geschichten. Dann las sie ihren Gästen daraus vor, und die stimmten immer dann ein, wenn die Worte ins Gedächtnis kamen. „Das war vielleicht der schönste Abend hier.“ Einige Geschichten stehen auch in den vier Gästebüchern, die die Zeit seit 1958 dokumentieren. Widmungen, Gedichte und Fotos sind dort zu sehen. Doch Diskretion wird gewahrt. Was in der Kneipe bleiben soll, das bleibt auch hier.

Alle sind gleich im „Üme Ecke“

 

Hermsdorf will nicht, dass die Leute denken, sie sei „so eine Schickimicki-Wirtin“. „Ich behandele alle gleich“, sagt sie. Und erzählt noch die Geschichte, wie Gerhard Schröder ihr seine Doris vorstellen wollte. An dem Tag feierte eine Familie Konfirmation in der Gaststätte. Als der damalige Kanzler in den Raum treten wollte, Hermsdorf war gerade in der Küche, sagte der Vater des Konfirmanden nur: „Geschlossene Gesellschaft!“ Schröder musste mit seiner späteren Frau wieder gehen. Als Hermsdorf in der Küche davon hörte, war das Paar schon verschwunden. Schröder hat’s ihr aber nicht übel genommen. Er ist wieder ins „Üme Ecke“ gekommen, wie so viele andere auch.

Renate Hermsdorf hat ein großes Herz. Der Satz, dem viele ihrer Gäste sofort zustimmen würden, trifft auch im medizinischen Sinn zu. Jetzt hat sie auf ihren Arzt gehört und geht mit 69 Jahren in Rente. Manchmal ist das „Wohlsein“ eben wichtiger als das „Prost“.

(© Text: Gerd Schild / Foto: Moritz Küstner, moritz-kuestner.de)

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