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Erschienen in: „kicker“, 15.2. 2016

Am 30. Mai 1970 veränderte Karl Wald den Weltfußball. Als er beim 12. Schiedsrichter-Verbandstag in München um das Wort bat, da wollte ihn der Präsident des Bayerischen Fußballverbandes, DFB-Vize Hans Huber, abwatschen. Der Herr Wald wieder mit seiner feisten Idee. Doch Wald erhob sich und sagte, dass er Huber jetzt einige Stunden sehr diszipliniert zugehört habe und diesen nun bitte, ihn zumindest fünf Minuten anzuhören.

„Der Erfolg rechtfertigt alles. Vielen Dank.“

 

Das saß, die Kollegen applaudierten, Wald trat ans Rednerpult. Der Entscheid durch den Münzwurf am Ende der Verlängerung sei ein beschämender Zustand, die Zuschauer wollten den Ball im Netz sehen, sagte Wald. Ein Elfmeterschießen müsse also her. Er schloss: „Meine Kameraden, ich bitte Sie, geben Sie dem Antrag grünes Licht, nach dem Motto: Der Erfolg rechtfertigt alles. Vielen Dank.“

Sechs Jahre später hätte Uli Hoeneß sich wohl gewünscht, dass der Verband beim Münzwurf geblieben wäre. Oder das Elfmeterschießen zumindest nur ein bayerisches Projekt. Im ersten Elfmeterschießen bei einem großen Turnier trat Hoeneß im EM-Finale 1976 gegen die Tschechoslowakei an – und drosch seinen Elfmeter auf die Tribüne des Stadions Roter Stern in Belgrad. Danach lupfte Antonin Panenka den Ball über den ins linke Eck hechtenden Sepp Maier. Deutschland hatte verloren. Die Tschechoslowakei war Europameister. Und die Fußballgeschichte hatte ihren ersten Elfmeterwahnsinn.

Karl Wald kann nicht mehr über diesen Wahnsinn sprechen. Er ist 2011 im Alter von 95 Jahren gestorben. Sein Enkel Thorsten Schacht kümmert sich heute um dieses Erbe des Großvaters, der im Februar 2016 100 Jahre alt geworden wäre. Schacht hat die Geschichten des Großvaters so oft gehört, dass er sie, obwohl in Norddeutschland geboren, im besten Oberbayerisch vortragen kann. „Es gibt nichts Besseres“, sagt Schacht heute über das Elfmeterschießen. Es ist ein Zitat des Großvaters, aber es ist auch der Satz eines Mannes, der diese Geschichte selbst unglaublich findet. Zur WM 2006 hat er die Seite karl-wald.de ins Internet gestellt.

Der Enkel verteilt Autogrammkarten vom Elfmeterschießenerfinder

 

Der Mittvierziger Schacht ist im Außendienst bei einem Schokoladenhersteller tätig und viel unterwegs. In seinem Auto hat Schacht nicht nur neue Schokoladensorten parat, im Handschuhfach liegen auch immer ein paar Autogrammkarten des Großvaters, die diesen in akkurater Schiedsrichteruniform mit weißem Kragen zeigen.

Wer wissen will, was einen Friseur aus Oberbayern zum Erfinder des Elfmeterschießens gemacht hat, der muss nach Penzberg reisen. Die saubere kleine Stadt mit gut 16 000 Einwohnern war früher für den Pechkohletagebau bekannt. Heute ist der Pharmakonzern Roche mit mehr als 5000 Arbeitsplätzen vor Ort einer der Garanten für eine akzeptable Haushaltslage. Alfred Wiendl schlägt für ein Treffen das Café Freudenberg in der Karlstraße vor, direkt gegenüber vom Rathaus. Wiendl ist Geschäftsführer beim 1. FC Penzberg, dem Verein mit dem Bergmannswerkzeug im Wappen, für den Karl Wald mehr als 50 Jahre aktiv war.

Ein Regelfanatiker, der die Regeln bricht

 

Wiendl öffnet gleich die grüne DIN-A-4-Mappe, sein privates Archiv von Karl Wald, mit Briefen, Zeitungsausschnitten und Fotos. „Der Karl war ein Hundertprozentiger“, sagt Wiendl. Eine Regel ist eine Regel, so sah Wald das. Bei einem Freundschaftsspiel 1951 hielt eine tapfere Regional-Auswahl ein Unentschieden gegen den FC Bayern. In der Nachspielzeit pfiff Wald Elfmeter für die Münchener. Die Zuschauer pfiffen ihn aus. Dass ausgerechnet Wald, dieser überkorrekte Schiedsrichter, in den 60er Jahren bei kleinen Turnieren in Oberbayern heimlich das Elfmeterschießen testete und damit die Regeln brach, das kann Wiendl bis heute nicht recht fassen.

Es war nicht nur die Ungerechtigkeit, die Karl Wald Regeln brechen ließ. Es war auch die Liebe zum Fußball. Wie so viele Kinder hatte er wenig Gelegenheit, sich gegen den Fußball innerlich zu wehren. Der Vater nimmt den neunjährigen Karl am 7. Juni 1925 mit zum Einweihungsspiel des Frankfurter Waldstadions vor mehr als 40 000 Zuschauern. Es ist zugleich das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft. Der FSV Frankfurt verliert gegen den 1. FC Nürnberg. Auf die Leistung von Schiedsrichter Willi Guyenz aus Essen wird der junge Karl noch nicht geachtet haben. Ab diesem Junitag aber ist Karl Wald Fußballfan.

Geschichten von Beckenbauer und Leberkäse

 

Aus dem Anhänger wird 1936 der Schiedsrichter. Die Liebe führt ihn nach Oberbayern, 1940 heiratet Wald seine Therese in der Penzberger Barbarakirche. Nach dem Krieg startet er dann eine Schiedsrichterkarriere, pfeift mehr als 1000 Spiele bis in die Oberliga Süd, die damals höchste Spielklasse, ist ein hochgeachteter Ausbilder. In der neu gegründeten Bundesliga darf er wegen seines Alters nur noch als Linienrichter dabei sein. Ein Höhepunkt: Er assistiert im Jahr 1965 beim Heimspiel der Münchener Bayern gegen die Eintracht aus Walds Heimatstadt Frankfurt, sieht wie Müller, Maier und Beckenbauer die Eintracht um Grabowski schlagen. Ein anderer Höhepunkt: Das Gastspiel des VfB Stuttgart 1947 in Bad Tölz. Nach dem Spiel gab es Leberkäse und Spiegelei. „Das war für damals eine Sensation“, erinnerte sich Wald noch Jahrzehnte später.

Zu Meckerern sagte Wald: „Ich mache auch mal einen Fehler, aber nicht so viele wie Sie.“

 

Josef Siegert hat noch unter dem Schiedsrichter Wald gespielt. Für Meckerer hatte der einen Spruch: „Ich mache auch mal einen Fehler, aber nicht so viele wie Sie.“ Irgendwann hat Wald Siegert das Du angeboten, der empfand das als eine Auszeichnung. Siegert kümmert sich heute im Rathaus von Penzberg um die Sportvereine der Stadt, und dabei zwangsläufig auch ein wenig um das Erbe des Karl Wald. Als er seinen Trainerschein macht, da muss er die Kollegen Mehmet Scholl und Lothar Matthäus erst einmal aufklären. Im Gladbach-Trikot hatte Matthäus 1984 im DFB-Pokalfinale in Hoeneß-Manier über das Tor geschossen – gegen seinen neuen Verein, den FC Bayern. Dank Siegert weiß der deutsche Rekordnationalspieler nun, wem er das Elfmeterschießen zu verdanken hat.

Es gibt in Penzberg viele Geschichten, die man sich über Karl Wald erzählt. Eine geht so: Der gelernte Friseur fuhr nach dem Krieg mit einer kleinen Eisenbahn die Penzberger Pechkohle vom Bergwerk zum Güterbahnhof. Beim Abladen hatte Wald dann immer eine Pause. Weil der drahtige Mann fit bleiben wollte, lief er Runden; auf den Fersen, weil das anstrengender war. So einer war der Wald, sagt man in Penzberg.

Vor gut zwei Jahren sind sie zusammengekommen, unweit des alten Güterbahnhofs. Der Bürgermeister war da, die Leute vom FC, Wiendl, Siegert, Schacht und die Familie aus Penzberg. An diesem Freitag im April wurde die Straße, die zum Nonnenwaldstadion führt, in Karl-Wald-Straße umbenannt. Eine Zusatztafel erklärt Besuchern, was der Namensgeber erfunden hat.

Noch waren keine Engländer da. Schadenfreude empfand Karl Wald nie bei englischen Niederlagen im Elfmeterschießen gegen Deutschland, er mochte die Briten. Im Krieg wurde der Soldat Wald in Belgien gefangen genommen. Im Lager verfolgte er ein Spiel britischer Soldaten. Weil er es nicht mitansehen konnte, wie schlecht der Schiedsrichter pfiff, ging er zu Offizier Sergeant Ben und bot seine Hilfe an. Er war nun ihr Referee, wurde herumgefahren, um Spiele zu leiten – sogar im Pariser Prinzenparkstadion, vor vielen Tausend Zuschauern.

Brieffreund Sepp Blatter

 

Karl Wald schrieb gerne Briefe. Seinem Freund Alfred Wiendl steckte er sie selbst in den Postkasten, als sie praktisch Nachbarn waren. Mit seiner eleganten Schrift richtete er Grüße aus oder merkte an, wie er dieses oder jenes beim heimischen FC gerade so einschätzte. Die größte Freude machten Karl Wald aber wohl die Briefe, die ihn regelmäßig aus der Schweiz erreichten. Der Absender bedankte sich für die herzlichen Worte beim „lieben Karl“ und nannte Wald „Herr des Elfmeterschießens“. Karl Walds Brieffreund war der damalige FIFA-Präsident Sepp Blatter.

Enkel Thorsten Schacht hat seinem Opa zum 100. Geburtstag ein Geschenk gemacht. Er ließ Walds Hercules 217, Baujahr 1957, nach 25 Jahren Lagerung in Kisten, restaurieren. Das Moped, auf dem Wald zu den Spielen im Umkreis fuhr – mehr als 36 000 Kilometer auf dem gemächlich tuckernden Gefährt. „Auf diesem Moped“, da ist sich sein Enkel sicher, „hat er seine Pläne zum Elfmeterschießen entwickelt.“

(© Text: Gerd Schild / Foto: Gerd Schild)

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